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Inmitten der Nacht
von Rumaan Alam
★★★★★ / gelesen 2023-12-10 bis 2023-12-18 Amazon
Eindrücke
Wenn Bücher verfilmt werden, hat das auch etwas Gutes: Wie bei Station 11 bin ich nämlich nur durch den Rummel um die Verfilmung auf das Buch aufmerksam geworden. Und so entschied ich mich, statt die Verfilmung zu schauen, einfach das Buch zu lesen.
Das Buch nimmt den Leser mit auf die Reise einer „typisch amerikanischen Familie“: Mit-40er Eltern, zwei Teenager-Kinder - Junge und Mädchen. Es geht in die Hamtons ins Ferienhaus und alles läuft okay, bis plötzlich die Vermieter vor der Tür stehen und von einem Stromausfall in New York berichten. Ab da geht es abwärts.
Das Buch gibt nur sehr wenige Informationen darüber, was eigentlich außerhalb dieser durch das Schicksal zusammengewürfelten Truppe von 6 Menschen passiert. Hier gleicht er den Filmen der Cloverfield-Reihe sehr. Der Autor baut ein Szenario auf und gibt dem Leser nur sehr wenig mehr Informationen als den Protagonisten. Ist es nun ein Krieg, Terroristen, ein Missverständnis? Atombomben? Oder doch nur ein aus Versehen explodiertes Kernkraftwerk? Man erfährt es schlichtweg nicht. Die Welt da draussen, die interessiert nicht.
Vielmehr ist es ein Kammerspiel. Was passiert, wenn zwei sich für liberal haltende Erwachsene plötzlich mit den in ihnen lauernden Vorurteilen konfrontiert werden? Wie reagiert eine Familie, wenn die Welt plötzlich untergeht und sie nicht in ihrem gewohnten Umfeld ist?
Ich gebe zu: Ich habe mich mehr als einmal dabei ertappt zu denken, dass das ich sein könnte. Meine Familie, mit einer Frau die exakt so alt ist wie die Mutter im Film. Mit zwei Teenagern, Junge und Mädel im Urlaub. Mit exakt den gleichen Gedanken, Ängsten und Feigheiten.
Alam hält den Spiegel hin, du schaust rein und erschrickst vielleicht nicht, aber das macht es so immersiv .
Ich war im Rekordtempo durch das Buch durch, weil es sich recht gut wegliest - keine Längen, einfach gehalten und doch so unglaublich nah.
Mich hat ein bisschen genervt, dass man selbst als Leser nicht erfährt, was eigentlich da draussen passiert ist. Auf der anderen Seite macht das den Frust der Protagonisten so viel erlebbarer. Und alles realer - denn ohne Handies und „eingeordneter Informationen“ wäre ich in echt ebenso frustriert. Deshalb nehme ich dem Autor das Stilmittel nicht übel, deshalb hat es mich im Buch auch nicht gestört - ich wollte es nur nach dem Lesen endlich wissen. Es war ein bisschen wie Sex, der nicht im Spannungsabbau endet …
Insgesamt ein unheimlich guter Roman mit offenem Ende. Es ist ein Episode - ein paar Tage, die ein Wendepunkt im Leben der beiden Familien sind, die wir begleiten. Wer Romane mit einer Auflösung mag, wird hier nicht glücklich. Dafür ist die Atmosphäre unheimlich dicht, die Figuren lebensnah und die Abgründe, vor denen jeder von uns stet, gut geschrieben. Absolut empfehlenswert.
Zitate
Später am Abend, nach Hamburgern, Hotdogs und gegrillten Zucchini, nach Schüsseln voller Eiscreme mit zerbröselten Keksen und vielleicht sogar ein paar geschnittenen Erdbeeren würden sie hoffentlich ficken. Nicht miteinander schlafen, das konnten sie auch zu Hause. In den Ferien wurde gefickt, dann wälzten sie sich verschwitzt und feucht in der aufregend fremden, teuren Bettwäsche anderer Leute. Anschließend würden sie nach draußen gehen, sich in den beheizten Whirlpool setzen und vom Wasser reinwaschen lassen, sie würden jeder eine Zigarette rauchen und sich unterhalten wie zwei Menschen, die seit vielen Jahren verheiratet sind: über Geld, über die Kinder, über Fieberträume von Wohneigentum (wie schön es wäre, so ein Haus zu besitzen!). Oder sie redeten gar nicht, das andere große Vergnügen in einer langjährigen Ehe.
Letztendlich war Moral auch nur eine Form von Eitelkeit.
Die Welt wurde von der stillschweigenden Übereinkunft zusammengehalten, dass sie nicht auseinanderbrechen konnte. Um eine Vorstellung zu zerstören, brauchte es kaum mehr als die Absprache einer Gruppe. Es gab keine wirklichen Strukturen zur Abwehr des Chaos, nur den kollektiven Glauben an die Ordnung.
Kinder lieben Stöcke, in der Hinsicht sind sie wie Hunde. Wenn man ein Kind in einen Park mitnimmt, wird es einen Stock aufheben.
Irgendwann hatte sie ihre Kinder zum letzten Mal in den Schlaf gesungen, ihnen zum letzten Mal den Hintern abgewischt, ihren Sohn zum letzten Mal nackt gesehen, so makellos wie am Tag seiner Geburt. Man weiß nie, welches Mal das letzte ist, und wenn man es wüsste, könnte man nicht weiterleben.
Ein Knall ertönte, wobei das Wort nicht ganz zutraf. Lärm war auch nicht die korrekte Bezeichnung, wobei sich am Ende alle Arten von Lärm der Beschreibung entziehen. Letztendlich war auch Musik nur ein Geräusch; kam man Beethoven durch Worte näher? Da war ein Geräusch, ja, aber dieses Geräusch war so laut, dass es fast greifbar erschien, und es kam absolut unvermittelt, weil es in die Stille hineinplatzte. Erst war da nichts (das echte Leben!), und dann war da das Geräusch. So etwas hatten sie nie zuvor gehört. Wie auch. Dieses Geräusch, diesen Knall hörte man nicht– man erlebte, ertrug, überstand und bezeugte ihn. Es war nicht übertrieben zu behaupten, dass der Knall ihr Leben in zwei Teile zerlegte: in die Zeit davor und die Zeit danach.
Bevor sie die Kinder bekommen hatten, waren sie alle Fragen durchgegangen– haben wir das nötige Geld, haben wir den Platz, haben wir das Zeug dazu–, aber sie hatten sich nie gefragt, in was für einer Welt die Kinder später leben würden.
Man redete sich ein, die Sorgen hätten irgendwann ein Ende. Zuerst sollten die Kinder nachts durchschlafen, dann entwöhnt werden, laufen lernen, Schnürsenkel binden, später dann lesen, Algebra, noch später Sex, College- Zulassung, und dann wären die Eltern frei. Aber es war eine Lüge. Die Sorgen waren unendlich. Einzige Aufgabe der Eltern war es, ihre Kinder zu beschützen.
Man redete sich ein, man interessiere sich für weit entfernte Völkermorde, aber das stimmte nicht. Die Entfernung machte sie bedeutungslos. Die Menschen waren einander gar nicht so verbunden. Ständig geschahen schreckliche Dinge, und nie hielten sie einen davon ab, Eis zu essen, Geburtstag zu feiern, ins Kino zu gehen, Steuern zu bezahlen, den Ehepartner zu bumsen oder sich Sorgen wegen der Hypothek zu machen.
Klappentext
Amanda und Clay wollen mit ihren beiden Kindern eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island verbringen. In einem Haus am Ende der Welt, weit weg von allem. Doch mitten in der Nacht steht dort plötzlich ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür. Die beiden behaupten, das Haus gehöre ihnen. Sie berichten, dass ganz New York im Dunkeln liege, das Leben an der Ostküste komplett lahmgelegt sei. Hier draußen jedoch, an diesem abgeschiedenen Ort, ohne Internet, Handy- oder Fernsehempfang, wissen Amanda und Clay nicht, was sie davon halten sollen. Können sie den beiden trauen? Rumaan Alam hat einen modernen Klassiker geschrieben. Einen brillanten Gesellschaftsroman, der sich mit den brennenden Fragen unserer Zeit auseinandersetzt – mit der Irrationalität unseres Lebensstils, sozialem Status, Rassismus und mit einer Welt, die unerwartet aus den Fugen gerät …